Mann hoch Vier

Mein Familien-Blog

Schmutzig, wild und frei - Kindheit?

Oder: Kinder, bleibt Pippi treu

Ich erinnere mich gut an meine Kindheit. Ich bin aus heutiger Sicht frei und wild aufgewachsen. Es gab noch ein Spielgewand, das nach der Schule zum Umziehen bereit lag. Es gab ein warmes Mittagessen und Hausübung. Es gab keine Sportkurse, ich wurde nicht zum Musikunterricht gefahren. Ich besuchte keine Förderkurse und nahm auch nicht an Wettbewerben teil. Aus heutiger Sicht eine langweilige Kindheit. Unsere Haustüre war offen. Es gab keinen Zaun zu den Nachbarn. Jeder hatte nur ein Auto, einen Gemüsegarten und ein großes Tor zur Freiheit. Das Dorf war unser Spielplatz. Wir spielten unbeaufsichtigt, selbständig und ohne Zeitgefühl.

 

Der Wald gehörte uns, wir gründeten dort Banden, verfolgten Verbrecher und fürchteten uns vor Wölfen. Oben am Hügel war ein undurchdringliches Maisfeld, von dem wir unser Abendessen stahlen. Der Bauer verfolgte uns mit dem Moped, die Oma briet die Maiskolben im Ofen. Dampfend mit Salz und Butter verschlangen wir sie im Stehen, um gleich wieder loszulaufen.

 

Einmal wetteten wir, dass ich mich nicht traute, nackt mit dem Fahrrad durchs Dorf zu fahren. Ich habe die Wette gewonnen und bin nackt mit dem Fahrrad durchs Dorf gefahren. Wir saßen vor dem kleinen Adeg-Markt und sprachen Englisch, damit alle Dorfbewohner glaubten, wir wären aus England. Den gestohlenen Kaugummi in der Hosentasche. Wir erkundeten dunkle Keller mit offenen Wasserstellen, verloren die Stunden am Bach, der unreguliert und reißend unsere Schiffe und Träume forttrug.  Wir jausneten dort, wo uns etwas zu Essen angeboten wurde. Auswärts schmeckte es immer am besten. Wir stritten, boxten, fuhren freihändig und schlossen einander aus. Wir sangen EAV-Texte, riefen bei der automatischen Zeitansage an, und verschwendeten das Kleingeld der Eltern in der Telefonzelle, um wildfremde Menschen in entfernten Dörfern anzurufen. Wir steckten uns Junikäfer in die T-Shirts und Ohrenschlürfer in die Schuhe.

 

Wir waren schmutzig. Wir haben überlebt. Dieses freie Großwerden setzte natürlich voraus, dass meine Eltern ein Grundvertrauen in meine Überlebens-Kompetenz hatten, ich einigermaßen selbstständig denken und handeln konnte und Vereinbarungen auch einhalten konnte. Und so war es.

 

Ich schreibe das nicht, um eine Kindheit und eine Zeit zu verklären, die wie jede Zeit großartige und weniger gute Seiten hat. Ich erzähle es, weil ich entdeckt habe, dass diese Freiheit und Wildheit auch heute noch Teil meines Wertesystems sind und meine Kinder daran teilhaben.

 

In letzter Zeit häufen sich Begegnungen mit anderen Eltern, die mich nötigen, mein Vorhaben, unsere Söhne am freien, wilden Großwerden kosten zu lassen, in Frage zu stellen oder nötigenfalls zu verteidigen. Ich beginne hier. Wir wohnen am Rand eines Waldes und Naturschutzgebietes. Vor unserer Haustüre stehen Gummistiefel in allen Größen. Die großen Buben können mit Schnitzmesser und Feuer umgehen. Sie kennen die Wege im Wald und am Feld. Sie wissen meine Telefonnummer und ihren Namen. Sie können laut schreien und Nein sagen. Sie wissen, dass sie einander in Not helfen und beschützen müssen. Und sie wissen, dass sie spätestens um 18.00 zu Hause sein müssen, außer es ist anders ausgemacht.

 

Der Mittlere (9) und der Kleinste (4) beschließen, eine Wanderung zu machen. „Wo wollt ihr den hin?“ Eine vage Antwort kam beim Schuhe anziehen. „Ein wenig aufs Feld und dann in den Wald.“ Ich hatte kaum ein- und ausgeatmet, und wollte noch Jacken einmahnen, liefen die beiden schon Hand in Hand die Einfahrt hinunter. Und weg waren sie. Ich dachte mir wenig dabei, außer dass das Haus plötzlich so still war. Nach 1,5 Stunden kamen sie zurück. Strahlend. Schmutzig. Ich habe keine Details erfahren. Sie haben überlebt. Sie waren wohl dort und da. Vor allem aber waren sie sehr stolz über ihr selbst gewähltes Abendteuer. Und ich? Ich hatte keine einzige Sekunde Sorge oder Zweifel. Ich wusste, der Große schützt den Kleinen. Und genau das ist es, was mich heute so stutzig macht.

 

Der Mittlere hat noch keine Fahrradprüfung. Es ist vereinbart, dass er über die Feldwege zur Schule fahren darf, dabei kreuzt er einmal eine wenig befahrene Straße. Er ist ein guter Radfahrer. Ich weiß jedoch auch, dass der Mittlere den Feldweg oft zu anstrengend findet und den Heimweg über die Straße nimmt. Ohne Fahrradprüfung! Was soll ich tun? Soll ich ihm das Fahrrad für den Schulweg verbieten und ihn stattdessen mit dem erlaubten Scooter schicken, auf dem die jungen Männer mehr als räuberisch unterwegs sind, über Bordsteinkanten springen und sich an Drehungen versuchen? Oder soll ich ihm seiner Selbständigkeit berauben und ihn jeden Tag in die Schule begleiten, obwohl er und ich genau wissen, dass er den Weg (1km) gut alleine schafft. Unlängst hat sich ein Freund den Arm mit dem Scooter gebrochen. Lebensrisiko? Brauchen wir auch einen Scooterführerschein?

 

Der Kleinste ist ein sehr freundliches, soziales Wesen. Er isst für sein Leben gern und lässt andere gerne daran teilhaben. Der Nachbarssohn schaut gern über den Zaun. Der Kleinste ist um 17.30 mit einem Stück Biodinkelribisel-Kuchen beschäftigt und schnappt sich ungesehen von mir ein zweites Stück und bietet es dem kleinen Nachbarn an. Der greift freudig zu. Aus dem Fenster höre ich die mütterliche Stimme, dass wir bitte mit dem „Essen-über-den-Zaun-reichen“ aufhören sollen, weil sie fixe Essenszeiten hätten. Die haben wir auch, denke ich mir. Der Junge muss den Kuchen zurückgeben. Ich finde es schade, dass ein Kind dem anderen kein freundschaftliches Kuchenteilen schenken darf. Sicher, dann haben sie keinen Hunger zum Abendessen, oder vielleicht doch? Ist ein liebevoll über den Zaun gereichter Ausnahmekuchen ein schlechtes Abendessen? Ich mag mich mit solchen Dingen nicht stressen.

 

Zur Übernachtungsparty unter väterlicher Betreuung am Waldrand mit Zelten und Lagerfeuer blieben von 7 geladenen 9-Jährigen Gästen nur 2 über Nacht im Zelt. Die anderen sagten ab, wurden von besorgten Eltern abgeholt oder suchten bis 21.00 verzweifelt einen Handyempfang. Dinge, die für mich und meinen Mann selbstverständlich sind, (im freien Übernachten, Zelten, ohne Handy den Tag verbringen…), sind da draußen in der Welt nicht mehr selbstverständlich.

 

Der Mittlere geht mit einem Freund aufs Feld und sucht die anderen Jungs der Nachbarschaft zusammen. Die Mutter des Freundes wird nach 1,5 Stunden nervös. „Ich weiß, du bist da viel lockerer“, höre ich zwischen den Zeilen vorwurfsvoll die Freiheit meiner Kinder angeklagt. Mein Großer geht ins Kino. Er ist 12 Jahre alt und schafft es, mit der Straßenbahn bis zur Endstation zu fahren und sich ein Kinoticket und Popcorn zu kaufen. Der Vater des Freundes kommt mit. Die Sorge ist zu groß. „Mama, das war so peinlich. Bitte mach das nie.“ Er darf das nächste Mal allein ins Kino, was wir nicht wissen, ist, dass er dabei 1 Liter Eistee trinkt. Erst nach einer schlaflosen Bauchwehnacht erfahren wir vom Eisteerausch. Der Junge ist geheilt. Begeistert fahren die drei Buben 4,9 und 12 mit den Rädern am großen Campingplatz zum Spielplatz. Mein Mann und ich haben 1 ganze Stunde kinderfreie Zeit. Wir wissen, sie schützen einander.

 

Ich weiß, es gibt Drogen, Kindesentführungen, Misshandlungen und andere schreckliche Dinge. Es gibt Konflikte, Stürze, Unfälle und manches geht schlecht aus. Ich setze mich dennoch für Freiheit und Wildheit ein! Egal wie oft ich mich dafür als Außenseiterin oder „lockere“ Mutter fühlen muss. Ich mag mich nicht von meinen eigenen Sorgen stressen lassen, und meine Kinder um wesentliche Erfahrungen berauben. Ich mag meine Kinder nicht jeden Tag in einen anderen Kurs bringen, damit ihre Freizeit überschaubar und kontrollierbar wird. Ich mag lieber nicht wissen, wo sie ihre Stunden im Wald herumklettern und ermögliche ihnen freie Nachmittage, die sie selbst mit Abenteuern füllen können. Und sie kommen schmutzig, grinsend und frei im Kopf nach Hause.

 

Kinder, seid Pippi, nicht Annika! Schmutzig und wild, frei und selbständig! Und kommt gerne in den sicheren, gemütlichen, sauberen Hafen der Familie zurück!

 

 (Bildquelle: pixabay)

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Wasserschlacht am Klassenzimmer

oder: Eine Warnung, nicht unter Schulfenstern vorbei zu gehen

Strahlend kommt der größte der Brüder nach Hause. „Mama, heute hat das erste Mal die Frau Direktor mit mir geschimpft.“ Er zupft ein Schreiben aus der Schultasche, auf dem uns die Schuldirektion mitteilt, dass unser Sohn nach einem bestimmten Unterrichtsgesetz – wortwörtlich „in seinem Verhalten auffällig ist“. Meine Miene ist wohl bestürzt, denn das große Pubertier beginnt sofort zu erzählen. In einem Satz fasst er das auffällige Verhalten zusammen. „Wir haben in der Pause Wasser aus dem Fenster gespritzt, leider ging gerade eine 8-Klasslerin vorbei.

 

 

Mütterlich froh über das leider, denn sonst entnehme ich dem Blick des jungen Mannes keine Reue, verkneife ich mir ein erleichtertes Lächeln und frage mit ernster Miene: „Und dann?“ „Ihr T-Shirt war ein bisschen nass und sie ist petzen gegangen. Und stell dir vor, während der Vokabelwiederholung wurden wir zusammengeschimpft.“ Und dann bringt er in einem sehr emotionalen Monolog zum Ausdruck wie sehr er sich darüber ärgert, dass sich alle darüber so aufregen, dass nur zwei von vier Jungs erwischt wurden, und dass die Vokabelüberprüfung so peinlich gestört wurde. „Und außerdem, Mama, das war ja wirklich eine Kleinigkeit, oder?

 

 

War es das?

 

 

In meinem Kopf schwirren Gedanken und Gefühle wirr durcheinander. Zum einen muss mein Lausmädchen-Ich lautstark in die Misstöne des Sohnes einstimmen. ‚Was ist schon dabei, wenn man ein bisschen nass wird‘, flüstert es mir zu. ‚Denk doch mal, was ihr alles in der Schulzeit gemacht habt, da ist ein bisschen Wasser-Spritzen ein Bagatell-Delikt‘. Vor meinem inneren Auge ziehen unsere Klingelstreiche, das Schulschwänzen, die Schmusereien im Fahrradkeller vorüber. Ich erinnere mich daran, dass wir nicht nur einmal die Klassentüre vor der Lehrerin zugesperrt haben und Stolper-Seile aus dem Fenster gespannt haben. Ich erinnere mich aber auch daran, dass der Herr Oberstudienrat Eberle nach einer rotzfrechen Antwort mich am Ohr ziehend nach meinem Nachnamen fragte um meine Eltern zu informieren.

 

 

Mein Mutter-Ich fordert jedoch streng Vernunft ein. ‚Das kannst du nicht einfach durchgehen lassen, was soll aus dem Jungen bloß werden, wenn du alles durchgehen lässt? Heutzutage kommt gleich die Fürsorge ins Haus, er muss sich benehmen können und seine Grenzen wahrnehmen lernen. Er muss Konsequenzen seines Verhaltens spüren. Was da alles passieren hätte können! Und was denken denn die anderen über uns?

 

 

Zunächst gewinnt das vernünftige Mutter-Ich: „Stell dir vor, eine alte Frau wäre da unten gegangen und sie hätte sich das Bein gebrochen!“, stammle ich beim Mittagstisch. „Mama, um diese Zeit gehen keine alten Frauen unter unserem Schulfenster vorbei! Pflichtbewusst und detailgenau schildere ich dem jungen Rebellen also die Geschichte der alten Frau, die unter dem Klassenfenster vorbeigeht, durch die Wasserspritzer so erschrickt, dass sie stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht. Die Frau liegt lange im Krankenhaus und kann sich fortan nicht mehr allein versorgen. Wir müssen für den Schaden aufkommen und tragen ein Leben lang Schuld mit uns. Der größte der Söhne hört aufmerksam zu, schaut mich zwinkernd an und fragt: „Krieg ich jetzt I-Pad-Verbot?“ Ich versinke vor mir selbst im Boden. Wie durchschaubar und unspannend ist unsere Erziehung für den jungen Mann? Er hat uns durchschaut! Hatten wir uns selbst nicht versprochen, ohne zusammenhanglose Strafen auszukommen? Müsste eine tragfähige Konsequenz nicht so aussehen, dass der junge Mann das T-Shirt des Mädchens zum Trocknen aufhängt und sich für sein Verhalten bei einem Eis (mit dem eigenen Taschengeld bezahlt) entschuldigt? Nein, er bekommt kein I-Pad-Verbot. Stattdessen erkläre ich ihm, dass Späße nur lustig sind, wenn niemand zu Schaden kommt. Und obwohl es stimmt, komme ich mir unendlich alt dabei vor.

 

 

Mein Mann bringt sich ein: „Das schaut nach Arbeitsdienst aus.

 

 

So darf der große Sohn am Wochenende einige Ehrenrunden mit der Kehrmaschine in unserer 35 Meter langen Einfahrt fahren. Er macht es fröhlich und ohne Verhandeln.

 

 

Am nächsten Tag im Auto Richtung Schule sagt dieser Sohn: „Mama, soll ich jetzt überhaupt keinen Blödsinn mehr machen?“ Am liebsten würde ich ihm antworten: ‚Doch mein Schatz, lass es noch ordentlich krachen, ehe der Ernst des Lebens dich packt und kein Platz mehr für Spiele ist. Pass nur auf, dass niemand zu Schaden kommt.

 

 

Diesmal sage ich nichts, zu schnell springt er aus dem Auto hinein in sein Leben. Ich lächle ihm zu Abschied zu.

 

(Bildquelle: Pixabay)

 

 

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Elsa oder die Kunst auf Stöckelschuhen zu gehen

Prolog

 

Längere Zeit haben Mann hoch Vier nichts von sich hören lassen. Was nicht heißt, dass das Leben sie nicht bunt weiter getrieben hat – in neue Lebensphasen, Krisen, Glücksmomente und Männersachen.

 

Die Ausganglage dieser neuen Serie ist folgende. Der Kleine hat jubilierend den Kindergarten erobert, der Mittlere ist im leicht melancholischen Übergang zum Gymnasium, nach dem Großen hat die Pubertät himmeltief gegriffen. Der größte der Männer verabschiedet sich langsam von einer Phase, die allgemein als „Midlife“ bezeichnet wird, gespickt von tiefen Krisen und glanzvollen Hochgefühlen. Die Wellen und Wogen schlagen wechselnd kräftig und dann doch wieder sanft und gütig nach uns.

 

Ich bin begeistert, wenn du wieder mit einsteigst, „in unser Familienboot“, und uns auf der bewegten Fahrt auf hoher See mit „Mann hoch Vier“ begleitest!  Wir starten mit dem Kleinsten …

Elsa oder die Kunst auf Stöckelschuhen zu gehen

 

Der Kleinste liebt Stöckelschuhe. Eigentlich muss ich zugeben, dreht sich seine Welt vordergründig um die Welt der Schuhe. Er sagt zu den Schuhen „Schühe“, womit wir eigentlich schon ursächlich merken hätten müssen, dass Schuhe etwas Besonderes für ihn sind. Denn sonst spricht er alle „u“ auch als „u“ aus. Er verbringt Stunden in unserem Vorzimmer und sortiert meine Stöckelschuhe nach Farben, Größen und Höhen. Zwischendrin höre ich ein leises Seufzen „Warum kann ich nicht so schöne Schühe haben?“ Natürlich werden die Schuhe auch anprobiert. Gestöckelt werden darf damit nur im Vorzimmer, denn der naturbelassene, geölte Holzboden verkraftet das kraftvolle Stöckeln eines kleinen Mannes nicht. Also wird in unserem eher überschaubaren Vorraum gestöckelt, probiert, nachhaltig über die Ungerechtigkeit der Schuhverteilung in der Familie geseufzt und immer wieder versucht, doch noch den Holzboden für einen Walk auf Stöckelschühen zu erobern.

 

 

Wenn Besuch kommt, der meist durch das hysterische Bellen unseres Hundes oder die ohrenbetäubend laut eingestellte Gartentorklingel (er das wohl war) unüberhörbar angekündigt wird, bleiben dem Kleinsten gerade noch 60 – 120 Sekunden, ehe er freuden-stöckelnd dem Besuch entgegenlaufen kann. Und ich übertreibe nicht, wenn ich „laufen“ schreibe. Denn er hat durch stetes Üben gelernt, auf 10 cm - Absätzen unsere abschüssige Einfahrt hinabzulaufen. Sturzfrei.

 

 

Neben den Schuhen zählen Kleider zu einer weiteren Leidenschaft unseres Kleinsten. Auch hier sehe ich ihn oft vor meinem geöffneten Kleiderschrank stehen: „Mama, warum habe ich nicht so schöne Kleider?“ „Mama, warum trägst du nicht jeden Tag so schöne Kleider?“ Aber der junge Mann weiß sich zu helfen. Ausrangierte Mama-Nachthemdchen, trägerlose T-Shirts, ungebrauchte Shirts der großen Brüder, die (für pubertierende Jungen) peinliche rosa Sterne haben, werden von ihm zu Kleidern umfunktioniert, mit Gürtel und anderen Accessoires aufgepeppt und erbarmungslos zu jeder Wetterlage draußen, Stimmungslage drinnen getragen. Ich habe einmal versucht, die Umkleideaktionen des Kleinsten an einem Tag zu zählen, erfolglos.

 

 

Eines Tages besuchten wir des Kleinsten Freund, der das Glück hat, 3 große Schwestern zu haben. Die Schwestern hüten eine große Kiste mit allen möglichen Mädchen-Verkleidungssachen. Der Kleinste und sein Freund haben ein festes Ritual. Nach 3 Sekunden Beschnuppern und Feststellen, dass man sich immer noch mag, bauen sich die beiden Jungs eine Umkleidekabine aus Sofapölstern, holen aus dem schwesterlichen Reservoir die wunderschönsten Prinzessinnenkleider, ziehen sich fast schon professionell aus und mit den glanzvollen Kleidern wieder an, begutachten sich gegenseitig und spielen den Rest des Nachmittags in diesen Kleidern. Prinzessinnenkleider schließen in diesem Fall Räuberspiele, Ritterwettkämpfe und Drachentötungen nicht aus. Der Freund oder besser gesagt seine Schwestern besitzen auch ein Elsa-Eisprinzessinnenkleid. Der Kleinste liebt dieses Kleid und konnte seinen Freund überreden, das Kleid für unbefristete Zeit auszuborgen. Glückstrahlend führte der kleine Mann fortan das Kleid in seinem Kindergartenrucksack mit und wurde von allen Mädchen in der Regenbogen-Gruppe maßlos bewundert. Woraufhin er Bestellungen für Prinzesssinnenkleider aufnahm und mir diese Liste stolz überreichte. Für 15 Mädchen sollte ich also nun glitzernde Kleider besorgen. Das Selbstbewusstsein des kleinen Mannes überstrahlte alle Zweifel der anderen Kinder, er war einfach der, der er war. Ein kleiner Mann in einem Eisprinzessinnenkleid.

 

 

Unlängst wollten wir in die Oper zu einem Sitzkissenkonzert gehen. Der Kleinste plante hoffnungsvoll schon tagelang davor seine Garderobe, Schmuck und Schuhwerk. Wir fuhren mit der Straßenbahn, gingen ins Café und besuchten dann das Konzert. Seine beste Freundin an seiner Seite. Der Kleinste trug das grün-silber-glitzernde Eisprinzessinnenkleid, drei Ketten aus Mamas Modeschmuck um den Hals, zwei Armreifen aus meiner Schmuckschatulle an den kleinen Ärmchen. Die High Heels konnte ich ihm gerade noch ausreden. Wir zuckten nicht einmal mit der Wimper.

 

 

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Grado, ein Momentaufnahme zum Glück

Grado liebt die Menschen, und die Menschen lieben Grado.

 

Niemand ist hier fleißig. Hier lebt jeder im Augenblick. Denn vom Sommer wollen alle kosten.

 

In Grado packen wir den köstlichen Müßiggang beim Schopf und lassen unsere Beine und unsere Herzen vom warmen Salzwasser umspülen.

 

Frühmorgens gehört der Strand den Hunden und den Alten.

 

Die Hunde vergessen das morgen, das sie doch nicht kennen und jagen über die Sandbänke dem erst besten Holzstock nach. Die Mutigen tauchen ins Wasser und spielen mit den Wellen.

Die Alten sammeln Krebse und Muscheln fürs Mittagessen. Sie tragen ihre Werkzeuge stolz wie Tiefseetaucher ihre Harpunen.

 

Dann, wenn es Tag wird, krempeln die Großmütter ihre Hosen hoch und richten ihre runzeligen Gesichter zur Sonne aus.

Die Großväter betrachten selbstvergessen den seitlichen Tanz der Krebse während ihre Enkelkinder die Beschaffenheit von Sand und Salzwasser prüfen.

Väter küssen die kleinen Füße ihrer Töchter, die müde im Liegestuhl von ihren Abenteuern im seichten Wasser zurückgekehrt sind.

Die großen Buben stochern mit Hölzern und Fischernetzen an den Stegen, um Krebse und anderes Getier hervorzulocken und in ihren Eimern zu sammeln, bloß um sie dann wieder ins Meer zu werfen.

Mütter stehen im Knie hohen Wassern zusammen, kümmern sich nicht um ihre Bäuche und Hüften, lachen was das Zeug hält und werfen ihre Söhne von der Luftmatratze.

 

Der Prosecco an der Strandbude taucht das Meer in weiches Licht, der Sonnenuntergang prahlt mit seinen Farben.

Am Abend machen sich alle fein, doch niemand will durch die Gassen stelzen, niemand will promenieren oder sich selbst zur Schau stellen.

Alle sind nun bloß auf der Suche nach der besten Goldbrasse, den dampfenden Spaghetti mit Muscheln und einem bekömmlichen Hauswein.

Die Kinder rauschen sie mit ihren Fahrzeugen durch die verkehrsfreien Gassen, die Eltern trinken noch eine Flasche Wein.

 

Die Kleinsten sitzen in der Gasse am Boden und spielen mit den mitgebrachten Dinosauriern und tragen in ihren Herzen das Gefühl vom Eingewickelt Sein in einem großen Badetuch mit blauen Lippen und Salz im Mund.

 

Um Mitternacht taucht Grado unter und lässt sich von den sanften Wogen der Adria in den Schlaf schaukeln.

 

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Der Magier mit Hüftschnupfen

Oder: Wie wir im Geiste beweglich bleiben

Der Geist kennt viele Zwischenräume ...
Der Geist kennt viele Zwischenräume ...

„Mama, bitte sag ihr nicht, dass sich in meinen Händen schon das wahre Potential entfaltet hat“, flüstert mir mein Mittlerer im Warteraum der osteopathischen Praxis zu. „Ok, ich sage nichts“.

 

Der Mittlere hat eine große Herausforderung hinter sich. Aus unserer erwachsenen Sicht eine fast nicht zu bewältigende Herausforderung. Er hatte schweren Hüftschnupfen und damit insgesamt drei Wochen strenge Bettruhe. Wohlgemerkt ohne die normalerweise zum Liegen erforderlichen Symptome wie Fieber, Gliederschmerzen oder einen Gips am Bein zu haben. Er musste schlicht und einfach Ruhe geben, damit sich sein Hüftgelenk zur Heilung entschließen konnte.

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