Schmutzig, wild und frei - Kindheit?

Oder: Kinder, bleibt Pippi treu

Ich erinnere mich gut an meine Kindheit. Ich bin aus heutiger Sicht frei und wild aufgewachsen. Es gab noch ein Spielgewand, das nach der Schule zum Umziehen bereit lag. Es gab ein warmes Mittagessen und Hausübung. Es gab keine Sportkurse, ich wurde nicht zum Musikunterricht gefahren. Ich besuchte keine Förderkurse und nahm auch nicht an Wettbewerben teil. Aus heutiger Sicht eine langweilige Kindheit. Unsere Haustüre war offen. Es gab keinen Zaun zu den Nachbarn. Jeder hatte nur ein Auto, einen Gemüsegarten und ein großes Tor zur Freiheit. Das Dorf war unser Spielplatz. Wir spielten unbeaufsichtigt, selbständig und ohne Zeitgefühl.

 

Der Wald gehörte uns, wir gründeten dort Banden, verfolgten Verbrecher und fürchteten uns vor Wölfen. Oben am Hügel war ein undurchdringliches Maisfeld, von dem wir unser Abendessen stahlen. Der Bauer verfolgte uns mit dem Moped, die Oma briet die Maiskolben im Ofen. Dampfend mit Salz und Butter verschlangen wir sie im Stehen, um gleich wieder loszulaufen.

 

Einmal wetteten wir, dass ich mich nicht traute, nackt mit dem Fahrrad durchs Dorf zu fahren. Ich habe die Wette gewonnen und bin nackt mit dem Fahrrad durchs Dorf gefahren. Wir saßen vor dem kleinen Adeg-Markt und sprachen Englisch, damit alle Dorfbewohner glaubten, wir wären aus England. Den gestohlenen Kaugummi in der Hosentasche. Wir erkundeten dunkle Keller mit offenen Wasserstellen, verloren die Stunden am Bach, der unreguliert und reißend unsere Schiffe und Träume forttrug.  Wir jausneten dort, wo uns etwas zu Essen angeboten wurde. Auswärts schmeckte es immer am besten. Wir stritten, boxten, fuhren freihändig und schlossen einander aus. Wir sangen EAV-Texte, riefen bei der automatischen Zeitansage an, und verschwendeten das Kleingeld der Eltern in der Telefonzelle, um wildfremde Menschen in entfernten Dörfern anzurufen. Wir steckten uns Junikäfer in die T-Shirts und Ohrenschlürfer in die Schuhe.

 

Wir waren schmutzig. Wir haben überlebt. Dieses freie Großwerden setzte natürlich voraus, dass meine Eltern ein Grundvertrauen in meine Überlebens-Kompetenz hatten, ich einigermaßen selbstständig denken und handeln konnte und Vereinbarungen auch einhalten konnte. Und so war es.

 

Ich schreibe das nicht, um eine Kindheit und eine Zeit zu verklären, die wie jede Zeit großartige und weniger gute Seiten hat. Ich erzähle es, weil ich entdeckt habe, dass diese Freiheit und Wildheit auch heute noch Teil meines Wertesystems sind und meine Kinder daran teilhaben.

 

In letzter Zeit häufen sich Begegnungen mit anderen Eltern, die mich nötigen, mein Vorhaben, unsere Söhne am freien, wilden Großwerden kosten zu lassen, in Frage zu stellen oder nötigenfalls zu verteidigen. Ich beginne hier. Wir wohnen am Rand eines Waldes und Naturschutzgebietes. Vor unserer Haustüre stehen Gummistiefel in allen Größen. Die großen Buben können mit Schnitzmesser und Feuer umgehen. Sie kennen die Wege im Wald und am Feld. Sie wissen meine Telefonnummer und ihren Namen. Sie können laut schreien und Nein sagen. Sie wissen, dass sie einander in Not helfen und beschützen müssen. Und sie wissen, dass sie spätestens um 18.00 zu Hause sein müssen, außer es ist anders ausgemacht.

 

Der Mittlere (9) und der Kleinste (4) beschließen, eine Wanderung zu machen. „Wo wollt ihr den hin?“ Eine vage Antwort kam beim Schuhe anziehen. „Ein wenig aufs Feld und dann in den Wald.“ Ich hatte kaum ein- und ausgeatmet, und wollte noch Jacken einmahnen, liefen die beiden schon Hand in Hand die Einfahrt hinunter. Und weg waren sie. Ich dachte mir wenig dabei, außer dass das Haus plötzlich so still war. Nach 1,5 Stunden kamen sie zurück. Strahlend. Schmutzig. Ich habe keine Details erfahren. Sie haben überlebt. Sie waren wohl dort und da. Vor allem aber waren sie sehr stolz über ihr selbst gewähltes Abendteuer. Und ich? Ich hatte keine einzige Sekunde Sorge oder Zweifel. Ich wusste, der Große schützt den Kleinen. Und genau das ist es, was mich heute so stutzig macht.

 

Der Mittlere hat noch keine Fahrradprüfung. Es ist vereinbart, dass er über die Feldwege zur Schule fahren darf, dabei kreuzt er einmal eine wenig befahrene Straße. Er ist ein guter Radfahrer. Ich weiß jedoch auch, dass der Mittlere den Feldweg oft zu anstrengend findet und den Heimweg über die Straße nimmt. Ohne Fahrradprüfung! Was soll ich tun? Soll ich ihm das Fahrrad für den Schulweg verbieten und ihn stattdessen mit dem erlaubten Scooter schicken, auf dem die jungen Männer mehr als räuberisch unterwegs sind, über Bordsteinkanten springen und sich an Drehungen versuchen? Oder soll ich ihm seiner Selbständigkeit berauben und ihn jeden Tag in die Schule begleiten, obwohl er und ich genau wissen, dass er den Weg (1km) gut alleine schafft. Unlängst hat sich ein Freund den Arm mit dem Scooter gebrochen. Lebensrisiko? Brauchen wir auch einen Scooterführerschein?

 

Der Kleinste ist ein sehr freundliches, soziales Wesen. Er isst für sein Leben gern und lässt andere gerne daran teilhaben. Der Nachbarssohn schaut gern über den Zaun. Der Kleinste ist um 17.30 mit einem Stück Biodinkelribisel-Kuchen beschäftigt und schnappt sich ungesehen von mir ein zweites Stück und bietet es dem kleinen Nachbarn an. Der greift freudig zu. Aus dem Fenster höre ich die mütterliche Stimme, dass wir bitte mit dem „Essen-über-den-Zaun-reichen“ aufhören sollen, weil sie fixe Essenszeiten hätten. Die haben wir auch, denke ich mir. Der Junge muss den Kuchen zurückgeben. Ich finde es schade, dass ein Kind dem anderen kein freundschaftliches Kuchenteilen schenken darf. Sicher, dann haben sie keinen Hunger zum Abendessen, oder vielleicht doch? Ist ein liebevoll über den Zaun gereichter Ausnahmekuchen ein schlechtes Abendessen? Ich mag mich mit solchen Dingen nicht stressen.

 

Zur Übernachtungsparty unter väterlicher Betreuung am Waldrand mit Zelten und Lagerfeuer blieben von 7 geladenen 9-Jährigen Gästen nur 2 über Nacht im Zelt. Die anderen sagten ab, wurden von besorgten Eltern abgeholt oder suchten bis 21.00 verzweifelt einen Handyempfang. Dinge, die für mich und meinen Mann selbstverständlich sind, (im freien Übernachten, Zelten, ohne Handy den Tag verbringen…), sind da draußen in der Welt nicht mehr selbstverständlich.

 

Der Mittlere geht mit einem Freund aufs Feld und sucht die anderen Jungs der Nachbarschaft zusammen. Die Mutter des Freundes wird nach 1,5 Stunden nervös. „Ich weiß, du bist da viel lockerer“, höre ich zwischen den Zeilen vorwurfsvoll die Freiheit meiner Kinder angeklagt. Mein Großer geht ins Kino. Er ist 12 Jahre alt und schafft es, mit der Straßenbahn bis zur Endstation zu fahren und sich ein Kinoticket und Popcorn zu kaufen. Der Vater des Freundes kommt mit. Die Sorge ist zu groß. „Mama, das war so peinlich. Bitte mach das nie.“ Er darf das nächste Mal allein ins Kino, was wir nicht wissen, ist, dass er dabei 1 Liter Eistee trinkt. Erst nach einer schlaflosen Bauchwehnacht erfahren wir vom Eisteerausch. Der Junge ist geheilt. Begeistert fahren die drei Buben 4,9 und 12 mit den Rädern am großen Campingplatz zum Spielplatz. Mein Mann und ich haben 1 ganze Stunde kinderfreie Zeit. Wir wissen, sie schützen einander.

 

Ich weiß, es gibt Drogen, Kindesentführungen, Misshandlungen und andere schreckliche Dinge. Es gibt Konflikte, Stürze, Unfälle und manches geht schlecht aus. Ich setze mich dennoch für Freiheit und Wildheit ein! Egal wie oft ich mich dafür als Außenseiterin oder „lockere“ Mutter fühlen muss. Ich mag mich nicht von meinen eigenen Sorgen stressen lassen, und meine Kinder um wesentliche Erfahrungen berauben. Ich mag meine Kinder nicht jeden Tag in einen anderen Kurs bringen, damit ihre Freizeit überschaubar und kontrollierbar wird. Ich mag lieber nicht wissen, wo sie ihre Stunden im Wald herumklettern und ermögliche ihnen freie Nachmittage, die sie selbst mit Abenteuern füllen können. Und sie kommen schmutzig, grinsend und frei im Kopf nach Hause.

 

Kinder, seid Pippi, nicht Annika! Schmutzig und wild, frei und selbständig! Und kommt gerne in den sicheren, gemütlichen, sauberen Hafen der Familie zurück!

 

 (Bildquelle: pixabay)

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