Neapel, eine Überdosis Bella Italia

Oder: Atmosphärische Eindrücke über das Lebensgefühl am Fuße des Vulkans

Vier Tage Neapel? Als ich von meiner Reise im norditalienischen Friaul berichte, schütteln sämtliche Gradeser ihre Köpfe. Wie kann man nach Neapel reisen? Skepsis und Bewunderung schwingen in ihren Worten mit. Es ist ein bisschen so, als wäre ich aus der Hölle zurückgekehrt. Und ja. Neapel ist eine Reise ins Feuer. Neapel, das ist eine Überdosis Bella Italia!

Völker, die auf vulkanischem Boden leben, haben das Zeug zum Überleben. Denn in ihren Adern strömt neben Blut auch Magma. Die Bewohner Neapels haben schon so viel überstanden. Vulkanausbrüche, Epidemien, Kriege, Mafia. Sie haben sogar ohne Hilfe die Nazis aus ihrer Stadt vertrieben. Neapel ist wild, kraftvoll und authentisch. Selbst die vielen dunklen Sonnenbrillen verbergen nicht, dass es hier ums wahre Leben geht. Die Menschen dieser Stadt sind nicht mehr der oberflächlichen Schönheit verpflichtet. Sie haben eine der wichtigsten Grundregeln des Lebens verstanden und wenden diese mit Leidenschaft an: Kommunikation. Die Neapolitaner fühlen sich vor allem dem Austausch, der Liebe und dem Genuss verpflichtet.

 

Unweit meines Hotels gibt es einen kleinen Kiosk. Als ich dort meine erste Flasche Wasser kaufe, bekomme ich augenzwinkernd Rabatt. Denn ich musste auf mein Wechselgeld warten. Zu wichtig waren die Gespräche, die gerade zwischen einem, in zweiter Spur (wenn es denn in Neapel so etwas gibt) stehen gebliebenen, Vespafahrer und dem Kioskbesitzer liefen.

 

In Neapel ist immer Markttag. An allen Ecken wird Fisch, Gemüse, Obst, Käse und Brot feilgeboten. Essen ist Lebensgefühl und Lebenssinn. Alles dreht sich ums Essen. „Mangare“, wohin ich meine Ohren auch hinrichte, höre ich dieses klingende Wort. Hausfrauen suchen sich laut diskutierend die richtigen Fische, das köstlichste Gemüse und das frischeste Brot aus. Touristen werden höflich ignoriert, oder freundlich gegrüßt. Auch hier am Markt scheint das Geschäft eine Nebensache zu sein. Es ist vielmehr ein Handel, der auch Blicke, Worte und Gesten miteinbezieht. Die Seele Neapels hat ihre Basis in der Kommunikation. Laut, mit vielen Gesten und klingenden Worten.

 

Neapel lebt im Augenblick. Der Vesuv kann jeder Zeit Verderben bringen. Solange er das nicht tut, wird das Leben ausgekostet. Es wird gegessen und getrunken, es werden Geschäfte gemacht, Hochzeiten gefeiert, Fische gefangen und Wäsche gewaschen. Was morgen sein wird, sehen die Neapolitaner dann, wenn sie morgen bei ihrem Cappuccino im Café ums Eck stehen.

 

In jeder Seitengasse dieser Stadt warten kleine Restaurants auf Einheimische und Besucher. In diesen kleinen Gassen bleibt Neapel das Dorf, das es immer war. Jeder kennt jeden, quer über die Straße werden lautstark Neuigkeiten ausgetauscht. Leicht entsteht die Illusion, man selbst sei ein Teil dieses Mikrokosmos. Es fühlt sich so an, als würden die Trattoria ums Eck, der Fleischer, der Obstladen, der Geruch des Meeres und der über allem wachenden Vesuv das Ticket zum Glück sein.

 

Einer dieser Mikrokosmen befindet sich in einer Seitengasse der Via Chiaria. 4 Tische vor dem Haus, eine überschaubare Speisekarte, ein Familienbetrieb.  Neben mir nimmt ein stämmiger Neapolitaner Platz, unverkennbar Freund des Hauses. Ich bestelle ein Glas Wein, bekomme einen halben Liter mit der Anmerkung, dass es ja nur ein bisschen mehr sei. „Il dottore“ setzt sich zum stämmigen Neapolitaner und bestellt ein „sorbeto“, nicht ohne vorher lang und breit seinem Tischgesellen ausgeführt zu haben, was er zu Hause schon alles gegessen hat. Schließlich setzt sich der Chef des Hauses an meinen Tisch, um mit dem „dottore“ zu plaudern, der Stämmige isst seine orata, der „dottore“ steckt dem Kellner ein saftiges Trinkgeld zu und schimpft mit dem Chef des Hauses, weil es sich ohne Fragen an meinen Tisch gesetzt hat. Meine Orata ist köstlich. Der Wein ist leer.

 

Die Altstadt verbirgt neben den vielen Gassen und Plätzen auch unzählige Kirchen. In einer davon hält ein Priester eben eine neapolitanische Predigt. Er spart nicht an Gesten und deutlichen Worten. Ich frage mich, was könnte er seinen Zuhörern wohl sagen? Vielleicht: „Lasst euch nicht unterkriegen von den Wirren der Zeit, bleibt lebendig und genießt den Moment!“ Die Stille und Leere der Glaubenshäuser ist eine willkommene Abwechslung zur Dichte der Stadt. Doch Neapel macht süchtig. Einmal verbunden mit der Energie dieser Stadt, kann man sich schwer wieder lösen. Und so bin ich auch bald wieder mitten drin.

 

Mit der Standseilbahn fahre ich hinauf auf den Vomero, Hausberg und Heimat des bürgerlichen Neapels.  Vom Castel Sant‘ Elmo hat man einen grandiosen, unvergesslichen Blick über Neapel und den Golf von Sorrent. Bei einem Café und einem Aperitivo auf der Terasse von Renzo  & Lucia lässt sich dieser Blick vergolden, wenn man darüber hinwegsehen darf, dass die Kellner, sich eher „a la milanese“  benehmen. 

 

Auf dem Vomero ist alles größer, breiter, ein wenig edler und gepflegter. Hier wohnt das bürgerliche Neapel. Es könnte irgendwo in Italien sein. Wäre da nicht diese typische unaufgeregte Betriebsamkeit, die Freundlichkeit und das Überangebot an Cafés, Restaurants, Foccacerias und Pizzerias. Die Standseilbahn verbindet diese beiden Stadtteile miteinander, die zusammen gehören und doch so etwas wie „oben“ und „unten“ repräsentieren. Oben sind die Nonnas eleganter im Verwöhnen der bambini, die Mütter tragen weniger Tattoos, die Männer tragen teurere Anzüge. Und trotzdem ist auch hier die Seele Neapels zu spüren, die sich aus jedem einzelnen perfekten kommunikativen Augenblick nährt.

 

Die Via Chiaria wird als Luxusmeile der Stadt bezeichnet. Und doch trägt diese Straße eine gewisse Patina, die den Luxus greifbarer, menschlicher macht. Bekannte Ketten wechseln sich mit unbekannten, kleinen Boutiquen ab. Frau fühlt sich wohl hier, denn Schönheit ist hier nur eine unaufgeregte Nebensache und nicht Lebenssinn. Im Café del Serpentone gibt es gegen 19.00 Uhr die perfekte Überdosis Bella Italia. Ganz Napoli ist um diese Zeit auf den Beinen. Sogar die Hunde dürfen jetzt vor die Türe. Es werden die neuesten Outfits präsentiert, wichtige Telefonate zu Büroschluss geführt, zufällige und beabsichtigte Begegnungen gefeiert. Hier sind Lachen, Weinen, Streit und Liebe nah beieinander. Nichts bleibt zu Hause, kein Mensch, kein Gefühl. Hier, am Ende der Via Chiaria, mit einem perfekten Aperol Spritz und Oliven vor mir, kann ich genau jene richtige Dosis Neapel einatmen, die mich über die kalten Wintermonate retten könnte. Eine Überdosis Lebendigkeit, die mich aus der Zurückgezogenheit und der Langeweile des nordischen Lebensstils herauszieht.

 

Mondän ist der Yachthafen von Neapel nicht. Borgo Marinaro, liegt am Fuße des Castel dell‘ Ovo. Allein die schwarze, vulkanische Erde verleiht dem kleinen Hafenviertel ein imperfektes Bild. Die kleinen Restaurants buhlen um Kundschaften, in erster Reihe schnell und teuer gefüllt, vor allem mit Touristen. In den hinteren Reihen, dort wo es keinen Meerblick gibt, füllt es sich gemächlicher und mit neapolitanischem Esprit. Das Ristorante da Nina bewirtete seine Gäste schon, als Neapel noch ein Dorf war. Und heute noch sucht sich jeder Gast seinen Fisch selbst aus. „Tutto bene?“, werde ich alle 5 Minuten gefragt. „Si! Tutto bene!“ Der gegrillte Fisch ist perfekt, das Brot ist frisch. Der Wein süffig. Ich denken: „Vielleicht wurden Goldbrassen von Gott einzig und allein dafür geschaffen, um uns Menschen hier in diesem Restaurant so glücklich zu machen?“

 

„Wann kommen Sie wieder zurück?“, fragt mich der Oberkellner, und legt beim Abschied seinen schützenden Arm um mich. Ich werde so herzlich verabschiedet, als hätte ich ein Jahr in diesem Restaurant verbracht und nicht zwei Abende. Wie ehrlich es die Neapolitaner meinen, sei dahingestellt. Sie müssen überleben. Ihr Geschäftssinn ist ehrlich, deutlich und unverhohlen. Doch auch ihre Herzlichkeit ist authentisch und direkt. Wer würde ihnen verübeln, aus beidem eine Kunst zu machen? Wie es morgen aussieht, weiß nur der Vesuv.

 

Der Wasserverkäufer am Kiosk gab mir übrigens noch zweimal Rabatt.

 

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