Hüterin der Träume

Unlängst kam ein Windstoß bei der Türe herein. Er roch nach trockenem Laub, Salzwasser und Oregano. Er nahm mich mit auf eine Zeitreise. Griechenland, 1987, ein Campingplatz auf dem gerade der Tag erwacht. Mit dem Windstoß stand die Sehnsucht vor mir. Sie flüsterte mir ins Ohr: Ein Monat in Griechenland, Camping mit deinen Kindern, frei und völlig entspannt.

Niemand hörte sie sonst, die liebe Sehnsucht. Bis Tränen den Weg frei machten.

Das Leben meint es gut mit den meisten von uns. Wir dürfen uns offiziell und nicht nur in spirituellen New Age Ecken in Dankbarkeit und Gegenwärtigkeit üben. Es liegt im Trend, das Gute zu sehen, den Augenblick zu genießen und die Haare in der Suppe zu übersehen. Balance finden zwischen Beruf, Familie und den persönlichen Dingen wird in Kundenzeitschriften gelehrt. Es scheint so, als wäre es ein Leichtes, wie immer schön, sportlich, erfolgreich und rundum zufrieden zu sein.

Wenn uns der Alltag trotz Sommerhitze voll im Griff hat. Wenn unerwartete Hindernisse trotz lauer Nächte auftauchen. Wenn Weichenstellungen für die Zukunft dem Holunderspritzer seine entspannende Wirkung abtrotzen. Dann kommen die Sehnsüchte ungefragt und aufdringlich bei der Balkontüre herein.  Sie umarmen uns, bestätigen, dass alles gut ist, und legen dann erst richtig los. Enthüllen ihr wahres Gesicht, beginnen, uns zu manipulieren.

Sie spielen uns Gerüche zu, die wir sonst nicht merken. Gerüche, die uns an vergangene wundervolle Erfahrungen erinnern. Wir wollen im selben Augenblick genau dorthin zurück. Sie hauchen uns Bilder in den Kopf, die genau jene Geschichte erzählen, die uns noch fehlt, um unser Puzzle des Glücks fertigzustellen. Sie erlauben uns, weiter zu denken, weiter zu spinnen und damit unsere inneren Grenzen zu weiten.

Unsere Sehnsüchte sind Spielfiguren auf dem Spielbrett unseres Lebens. Sie sind Platzhalter für die Freiheit, für die Geborgenheit, für Verrücktheit, für Jugend oder Gelassenheit. Sie spielen die Liebe, die Lust, die Wonne, die Entspannung, die Freundschaft, das Angekommen Sein und das Loslösen.

Können wir unseren Sehnsüchten trauen? Sind sie tatsächlich Wegweiser um unser Puzzle Schritt für Schritt zu vervollkommnen? Oder steckt hinter all den Rollen, die die Sehnsucht einnimmt, einzig und allein das Ego? Wie können wir zwischen beidem unterscheiden?  Wie lange hat eine Sehnsucht Gültigkeit? Kommt sie immer wieder, oder ist sie irgendwann erfüllt und zufrieden, damit die nächste Sehnsucht auftauchen kann?

Sehnsucht ist die Schwester der Träumerei. Ich finde, dass das Träumen, das Luftschlösserbauen, das Phantasieren wundervolle Gefährten im Alltag sind. Sie erinnern uns immer daran, was sonst noch möglich wäre. Sie machen uns klar, dass die Enge des Alltags auch wieder weit werden darf. Sie stellen eingefahrene Muster in Frage und erlauben uns, über den Tellerrand zu blicken.

Ich bin Hüterin meiner Träume. Sie sind Lichter in der Dunkelheit. Sie machen den Weg frei für mein wahres Ich. Es ist nicht wesentlich, ob alle Träume Realität werden, ob alle Sehnsüchte erfüllt werden. Es ist wesentlich, zu erkennen, was hinter diesen Ideen steckt.

Wenn nur einige Sehnsüchte Teile unseres goldenen Puzzles sind, so lohnt es sich jedenfalls, diese Sehnsüchte zu teilen. Denn nur so können auch die Menschen um uns verstehen, wer wir sind. Nur so können unsere Liebsten erfahren, was für uns Glück bedeutet. Vielleicht stoßen wir auf Menschen, die unsere Sehnsüchte sogar verstehen. Vielleicht stoßen wir auf Menschen, die uns bei der Verwirklichung begleiten oder unterstützen.

Sehnsüchte vergolden unser Leben. Sie sind die Zugabe, die das Glück vollkommen machen. Ich öffne meine Türe weit, wenn sie wieder einmal mit wehenden Fahnen anrauschen und zum Aufbruch rufen.