Ich mag dich und du magst mich!

Oder: Was haben Schürfwunden mit Rosenberg zu tun?

Miteinander oder allein?
Miteinander oder allein?

Ich gehöre zu jenen Menschen, die grundsätzlich nichts Böses auf dieser Welt wollen. Du sicher auch. Das klingt naiv, und doch bestimmt diese wohlwollende Grundeinstellung mein Leben und die Beziehungen, die ich zu anderen Menschen habe. Schon im Kindergarten und in der Schule habe ich nicht verstanden, wenn über andere, meistens jene, die nicht dem Mainstream angehörten, hergezogen wurde. Nie im Leben wäre mir eingefallen, andere absichtlich in die Falle zu locken oder schlecht zu machen. Jedes Mal, wenn ich selbst in „die Falle tappte“, jedes Mal, wenn ich hinters Licht geführt wurde, wenn man mich schlecht machte oder verspottete, blieb meine Welt für einen kurzen Augenblick stehen. Ich hielt die Welt an, um zu begreifen, was vor sich ging. Ich zog bisweilen die Einsamkeit, das Anders Sein dem Mitmachen vor. Versuchte ich das Mitmachen doch, spürte ich meine eigene Falschheit sogar körperlich.

Schließlich fragte ich mich als Heranwachsende oft, wo ich denn dazugehörte. Im Nachtbus von Piräus nach Thessaloniki wartete die Antwort. David Bowie im Ohr meines Walkmans machte mich stark genug, um meine innere Stimme zu hören. „Ich gehöre zu mir selbst und das ist gut.“ Danach wurde ich immer besser im Aussuchen der richtigen Freunde. Ich entwickelte ein Gespür dafür, wer so tickte wie ich. Ich begann unter jenen zu suchen, die „anders“ waren. Und fiel immer seltener in die verlockenden Schlangengruben. Aber ich fiel.

 

Wer wir Menschen sind, erfahren wir nicht nur durch die Erfahrungen, die wir mit uns selbst haben. Das wäre ein sehr einsames Geschäft. Wer wir sind, das lernen wir vor allem durch die Beziehungen und Begegnungen, die wir mit anderen Menschen haben. Nur wenn wir lernen, diese scharfe Grenze zwischen ICH und DU zu ziehen, wissen wir, wer wir sind.

 

So müssen wir anerkennen, dass die Beziehungen, die wir führen und pflegen, einen wesentlichen Teil unserer Identität ausmachen. Ein logischer Schluss aus dieser überwältigenden Tatsache wäre, dass wir nicht nur uns selbst gut behandeln, sondern eben auch unsere Beziehungen ausschließlich wohlwollend gestalten. Denn tun wir anderen weh, tun wir irgendwie auch immer uns selbst ein bisschen weh.

 

Selbst wenn wir also nun beherzigen würden, um unserer selbst Willen, die Menschen um uns ausschließlich liebevoll zu behandeln, müsste ich hier eingestehen, dass dieses Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist.

 

Was geschieht mit uns? Warum ist dieses Gut Sein auch manchmal zum Scheitern verurteilt?

 

Wir bringen in jede unserer Begegnungen unsere gesamte Geschichte im Rucksack mit. Oder löschst du vor jeder neuen Begegnung deine Festplatte mit allen Lebenserfahrungen? Sicher nicht. Alles, was wir denken und sagen, und auch alles, was wir hören, wird durch unseren persönlichen Filterassistenten geschickt. Leider ist dieser Assistent nicht wertfrei. Nein, er wertet, ordnet ein, schnappt ein Wort auf und ist beleidigt, sagt ein Wort und meint es anderes. Sagt nichts mehr und geht seiner Wege. Und es wird kompliziert.

 

Ja, Beziehungen zu anderen Menschen sind kompliziert. Selbst wenn wir aufrichtig lieben, passiert es, dass unser Wohlwollen nicht ankommt. Es passiert, dass wir im Reden unbedacht werden, dass Gesten und Blicke falsch gedeutet werden. Es passiert, dass wir Dinge sagen oder denken, die wir anders meinen, in diesem justen Augenblick aber vom strebsamen Ego, von der zügellosen Leichtigkeit oder der flatterhaften Unachtsamkeit getrieben werden. Es passiert, dass wir unkonzentriert oder abgelenkt sind. Schürfwunden an der eigenen und der fremden Seele sind die häufige Konsequenz. Zu viele Schürfwunden vermiesen uns das Miteinander.

 

Sollen wir deshalb das Risiko minimieren und nur noch die nötigsten Beziehungen eingehen? Sollen wir auf Tiefgang, auf gegenseitiges Vertrauen oder auf das gemeinsame Lachen verzichten, nur weil es gefährlich ist? Sollen wir nichts mehr sagen aus Angst, den anderen zu verletzen oder selbst verletzlich zu werden? Sollen wir niemandem mehr in die Augen blicken und niemanden mehr in unser Herz lassen?

 

Wie können wir es schaffen, heil und doch getragen durchs Meer der Beziehungen zu schwimmen? Wie viel sollen wir hergeben, wie viel sollen wir dem anderen schenken? Wann sind wir verkauft? Wie können wir es vermeiden, unser Gegenüber zu verletzen, ohne unsere Impulsivität zu vergraben? Wie können wir uns schützen und trotzdem unser Herz offen halten? Und wie können wir jemals unseren Kindern das richtige Maß vorleben, wenn wir es selbst jedes Mal aufs Neue definieren müssen?

 

Vielleicht sollten wir in unsere Beziehungen mehr Toleranz einziehen lassen. Vielleicht würde es gut tun, nicht jedes Wort auf die Waagschale zu legen. Vielleicht wäre es auch heilsam, jenen Menschen, die wir lieben, grundsätzlich verzeihend gegenüber zu treten. Wollen doch auch wir selbst, dass man sich uns gegenüber tolerant und verzeihend verhält.

 

Wir hören doch auch lieber was andere an uns mögen und schätzen. Wir laufen bei Kritik lieber davon, als sie konstruktiv anzuhören. Es geht wohl ums rechte Maß. Vielleicht führen uns tatsächlich Rosenbergs Fragen zu einer neuen Qualität in unseren Beziehungen. „Wie fühle ich mich? Was brauche ich? Was wünsche ich mir von dir?“ Könnten wir es noch ergänzen mit „Wofür danke ich dir?“ „Was wollen wir nun tun?“

 

Ehrlich gesagt verletze ich immer noch ungewollt Menschen. Und ich werde ungewollt verletzt. Ehrlich gesagt lege ich manchmal noch immer jedes Wort auf die Waagschale und verbeiße mich in unachtsam gesprochene Worte. Ehrlich gesagt fällt es mir manchmal noch immer schwer, tolerant zu sein. Ehrlich gesagt fällt mir Rosenberg oft erst am Ende eines Konflikts ein. Ehrlich gesagt weiß ich oft gar nicht, was ich mit all den komplizierten Geschichten will. Doch eines ist klar. Ich liebe. Und ich möchte nicht auf die Menschen verzichten, die mein Leben so reich und bunt machen.

 

Geben wir nicht alle unser Bestes?

 

Wenn wir es besser könnten, würden wir es ja ohnehin tun. Eine beruhigende Perspektive ist es jedenfalls, dass wir ALLE wohl immer nur das Beste geben. Erinnern wir uns das nächste Mal daran?

 

 

 

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