Auf den Spuren der Schönheit

Oder: Mailand in einem Atemzug

Bekanntlich verringert sich das persönliche Maß an Spontanität mit der Anzahl der Kinder, die man sein eigen nennt. Kinderlos bedurfte es nur eines Augenzwinkerns, und wir waren startklar für einen one-night-road-trip von Salzburg nach Köln. (Im Sportwagen des Chefs)

 

Mit ein oder zwei Kindern gelang uns noch der eine oder andere Überraschungstrip, der nicht schon 8 Monate zuvor fixiert, kalendarisch blockiert und mit den Großeltern abgesichert war. Heute, mit drei Kindern steht viel zu oft das Wort UNMÖGLICH zwischen mir und meinen verrückten Ideen.


Letzte Woche dann, öffnete sich ein unerwartetes Fenster der Freiheit. 2 Nächte, ein voller Tag in Mailand. Unerschrocken stand das Wort UNMÖGLICH noch immer vor mir. „Willst du dir das antun?“, „So viel Aufwand für so kurze Zeit?“, „Zahlt sich das aus?“ „Wie halten das die Kinder aus?“

 

Zuerst rief ich laut: „UNMÖGLICH“, dann drehte ich mich um und tat das, was ich immer tue, wenn ich verärgert über mich oder den Rest der Welt bin: Ich gebe noch eins drauf: „Ich würde sogar jetzt und auf der Stelle auf einen Kaffee nach Salzburg fahren!“ Das saß und ich ging mit meinem Kleinsten in die Waschküche.  Mein Kleinster klatscht bravo (das habe ich ihm gelernt) und versucht, einen Platz im Wäschetrockner zu ergattern.

 

Einen Augenblick nur, einen winzig kleinen Augenblick, schließe ich die Augen und sehe meinen Liebsten UND mich durch Mailand flanieren. Ein lauter Knall holt mich zurück aus meinem Tagtraum. Der Kleinste aller Männer hat, ich weiß nicht wie, die Flasche mit dem vollen Waschmittel aus luftiger Regalhöhe auf dem Waschraumboden verteilt. Stumm rinnen mir die Tränen über die Wangen. Das Wort „UNMÖGLICH“ wird blasser und schließlich weggewaschen. Ich laufe zum Telefon und rufe laut: „Ja, ich will!“

 

Es ist Mitternacht. Ich stehe mitten am Mailänder Domplatz, die Luft ist lau, Menschen eilen hin und her, Asiaten verkaufen lange Teleskopstangen.  Ich atme tief ein. Ja, es hat sich schon für diesen einen Atemzug  gelohnt.

Milano, der klingende Name dieser Stadt verspricht Mode, Luxus, schöne Menschen und Genuss, wie er nur in Italien zelebriert wird. Sonst eher an der Tiefe und an Blicken hinter die Fassade interessiert, tauche ich unweigerlich in eine Welt ein, in der gerade die Hüllen wesentliche Geschichten erzählen.  Eine Stadt zu erkunden bedeutet für mich vor allem, in das Lebensgefühl einer Metropole einzutauchen. Auf Tuchfühlung mit den Straßen, den Menschen, ihren Cafés und Restaurants, ihren Gewohnheiten und Rhythmen zu gehen.

 

Milano mit Sneakers und Rucksack zu erkunden fühlt sich wie die erste Todsünde an. Trotz des Risikos, mir wunde Füße zu erlaufen, fühle ich mich verpflichtet, dieser Stadt in hohen Schuhen entgegenzutreten. Auch mein Liebster fühlt sich diesem unausgesprochenen Kodex verbunden und grübelt wie sonst nicht über seiner Garderobe. Normalerweise mit dem Aufspüren möglichst schöner, langer Frauenbeine beschäftigt, sucht er hier nach Antworten, die die Männer dieser Stadt betreffen. „Wie machen die das?“ Dieses Mantra flüstern wir uns im Viertelstundentakt auf unserer stundenlangen Erkundungstour ins Ohr.

 

Und so analysieren wir akribisch die Outfits der Männer in den Straßen, den Cafés und Geschäften der Innenstadt. Sie tragen im Grunde nichts anderes als Männer in New York City, London oder Berlin. Und doch ist es anders.

Wir streunen durch das historische Zentrum der Stadt, bewundern die Eleganz und Vollkommenheit der Ateliers, der Geschäfte und Restaurants. Wir wagen uns auf die Luxusmeilen und lachen darüber, dass auch hier die Geschäfte meist leer und von einem schwarz gekleideten Menschen gehütet werden. Mit staunenden Augen flanieren wir durch das Künstler- und Designerviertel Breera. Egal, wo wir hinsehen, egal ob wir sündteure Kleider in ausgefallenen Boutiquen betrachten oder ob wir uns in private Innenhöfe, in die uns Eigentümer freundlich einladen, wagen. Stets bleiben wir überwältigt von der Stilsicherheit und Eleganz dieses Volkes. „Wie machen die das?“ Selbst im Second Hand Laden fühlen wir uns noch wie die Fürsten von Monaco.

 

Die hohen Schuhe retten mich vor dem Abgrund meiner Selbstzweifel. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde ich in meinen alten Schuhen einen eleganten Schuhladen betreten.  Ich flehe um Antworten, die uns beruhigen. Und prompt, mitten im schicken Designer-Viertel erhalten wir eine Antwort. Eine Formation von 20 Carabinieri auf glänzenden Motorrädern rollt an uns vorbei. Sie rollen mit Selbstverständlichkeit, mit fokussiertem Blick, mit Eleganz. Keinen von ihnen würde ich als schön bezeichnen. Und doch ist jeder von ihnen schön. Es muss also etwas Unsichtbares sein, das diese Menschen so gut aussehen lässt. Ist es eine Haltung zum Leben, zu ihrem Dasein? Ist es eine Ausstrahlung, die man nicht anziehen kann? Es ist ein Paukenschlag aus Selbstvertrauen, der Liebe zum Leben und der Freude am Schön Sein. Haben wir es hier mit Menschen zu tun, denen ein absolutes Gespür für Eleganz angeboren ist? Werden wir hier Zeugen davon, wie ihre innere Haltung  widerspruchslos ihre Existenz rechtfertigt? Wo führen uns diese Fragen hin? Vom Außen nach Innen.

 

Ich frage mich, ob ich mich nicht irre. Ob diese Menschen nicht wie wir Selbstzweifel, Angst und Verzweiflung kennen? Ob diese Menschen nicht auch manchmal ihr Dasein argwöhnisch betrachten und sich selbst und die Welt nicht besonders schön finden? Ob sie morgens im Bad über ihr Spiegelbild staunen oder schmunzeln?

Und wo könnten wir diese innere Haltung erlernen, wenn sie erlernbar wäre? Die jene unaufgeregte Selbstverständlichkeit und gleichzeitig den Genuss am Dasein widerspiegelt? Sollten wir sie überhaupt lernen? Wie könnte es uns gelingen,   unangestrengt gut auszusehen? Wie können wir uns überhaupt diesem Thema nähern, ohne in die Oberflächlichkeit zu driften? Wie können wir Schönheit zelebrieren, ohne sie zum Mittelpunkt unseres Lebens zu machen?

 

Mittlerweile tun uns die Füße sehr weh. Abseits der Trampelpfade finden wir dieses typische Capuccino-Pannino-Feeling, wiederum gepaart mit dieser  Mailänder Selbstverständlichkeit, die uns so beschäftigt. Ist es Selbstgefälligkeit?

 

Nur nicht die Schuhe ausziehen, sage ich mir, denn dann kommst du nie wieder hinein!

Dass Mailand über ein faszinierendes Kanalsystem verfügt, an dessen Ufern sich die Strenge der Innenstadt sanftmütig auflöst, kann als Erlösung betrachtet werden. Hier gibt es nicht diese EINE Eleganz. Hier finden wir nicht diesen EINEN Stil. Hier gibt es auch noch hinter Schall und Rauch etwas zu erkunden. Hier, an den Ufern des Navigli und seinen Nebenarmen vermischen sich Lebensgefühle und bleiben dennoch in ihrer Einzigartigkeit.  Studenten frönen dem „Dolce Far Niente“, Geschäftsleute in sündteuren Anzügen feiern an großen Tafeln ihre Erfolge und Niederlagen, niederländische Touristinnen braten ohne Sonnencreme in der ersten Frühlingssonne, Mütter holen ihre Kinder von der Nonna ab, junge Frauen stolzieren ihre Jagdreviere ab. Campari kostet hier in etwa so viel wie ein doppelter Espresso. Die Nachmittagssonne und der Alkohol hüllen uns in Watte ein. Die neue lila U-Bahn bringt uns in unser Hotel im Nirgendwo. Doch auch hier, im Nirgendwo, wird um die Ecke der beste Capuccino der Welt verkauft. Mit Selbstverständlichkeit.

 

Zu Abend essen wir gerne dann, wenn die Touristen das Feld geräumt haben, wir füllen mit den Italienern die Lokale. In der U-Bahn ist es laut, sehr laut, als wären wir auf einem sizilianischen Gemüsemarkt. Von wegen Norditalien. Ich versinke in einem Meer aus Stimmen, Gerüchen und Gefühlen. Es ist Mittwochabend, zu Hause sind die Gehsteige schon hochgeklappt. Hier an den Ufern der Kanäle der Stadt geht es erst so richtig los. Es ist, als würde das Herz Mailands genau hier zu schlagen beginnen. Der Puls der Stadt wird hier zelebriert, unvoreingenommen, großzügig und kraftvoll.

 

Wir nehmen den ersten freien Platz in einem Restaurant. Wir betrachten die vorbeiströmenden Menschen, wir hören den Herzschlag der Stadt. In unserem Blut strömt mittlerweile Cabernet Sauvignon aus dem Trentino, die Füße tun kein bisschen weh. Wir haben diese Stadt an einem einzigen Tag eingeatmet. Wie an einer Droge hingen wir seither an ihrem Pulsschlag.

 

Nun liegt es an uns, unsere eigene Schönheit zu leben.

 

 

Nachtrag

Auf der Heimreise löst sich dieser eine Atemzug in winzig kleine Teile auf. Ein kaputtes Flugzeug und verschiedene Verspätungen von umgebuchten Anschlussflügen schenken mir Stunden, die ich mit eben dieser Auflösung verbringe. Da war ein Manager im Gucci Anzug, er trug rote Socken und den gleichen Ring wie sein alter Vater. Ob er wohl selbstbestimmt leben konnte? Da war diese junge, unverbrauchte Frau aus Paris kommend. Sie war so leicht und unantastbar. Ob sie wohl verliebt war? Da war der gut aussehende Italiener, der in sein Notebook so verliebt war, dass er sogar beim Ein- und Aussteigen Emails schrieb. Ob er sich wohl nie für Frauen interessierte? Da war eine Frau mit Spuren von Gewalt an ihrem Hals. Sie trug kein Tuch. Ob es wohl Spuren von Lust oder Leid waren? Da war diese Altherrenrunde, die an ihren Tablets hockend Urlaubsfotos an die Enkel mailten. Ob diese Alten wohl stolz auf sich selbst waren?  Und ich, mittendrin. In Mailänder Schuhen.

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