Eine Reise zum Fixstern des Glücks

Warum das Tragen von Steppjacken in Grado die Zeit still stehen lässt

Es gibt sie, diese kleinen Momente im Leben, die zu Fixsternen am persönlichen Himmel der Erinnerungen werden, im positiven, wie im negativen Sinne. Einer dieser Fixsterne in meinem Gedächtnis stellt folgende Szene dar: Ein schmaler weißer Balkon mit Blick aufs Meer. Zwei Tassen starken dampfenden Kaffee auf einem weißen Tischchen. Die Uhr zeigt 15.30. Eine sanfte Brise macht die Hitze erträglich. Das einzige Kind schläft den gesegneten mediterranen Mittagsschlaf. Und hier kommt er, dieser eine Moment: Das Meer beginnt plötzlich zu glitzern. Es glitzert so unverblümt wunderschön, dass sich dieser Anblick direkt in mein Herz brennt. Jeden Tag. Fast ein Jahr lang. Damals, vor fast 8 Jahren, auf unserem kleinen Balkon in Grado schenkte uns dieser Moment das Gefühl, dass alle Möglichkeiten auf uns warteten. Die Zeit stand für einen kurzen Moment still.

Fast 8 Jahre später. 3 von 5 Personen wurden von der „echten Grippe“ in die Knie gezwungen. Nur einer von 5 war im Ausland in Sicherheit. Nur der Kleinste von allen entkam ohne Schrammen dem Virus. Zusammen hatten wir über die unendlich lange Zeit von zwei Wochen täglich 117 Grad Fieber, verbrauchten 1000 Taschentücher und tranken 400 Säckchen Hustentee.

 

Mit fahler Gesichtsfarbe, 500 Falten mehr, verheultem Blick und kratziger Stimme verspreche ich mir selbst, die erstbeste Chance zu nutzen, um ans Meer zu fahren. Mein Gehirn ruft diesen einen Fixstern ab, das glitzernde Meer senkt kurzfristig das Fieber und erhöht die Hoffnung. Grado hat Heilungspotential.

 

Und tatsächlich, es gelingt mir, oder ich nutze einfach die Gunst der Stunde. Im schwarzen Cabrio rausche ich, sogar mit männlicher Begleitung, Richtung Süden. Ich kann diese Reise noch nicht ganz fassen, als mir beim Autogrill Tränen in den Cappuccino topfen, die von der Mühsal der letzten Wochen erzählen. Erst als wir mit offenem Fenster in die Lagune einfahren und ich die erste Brise salziger, kalter Meeresluft einatme, ahne ich mein Glück. Richtig begreife ich mein Hochgefühl erst, als ich endlich am Strand entlang laufe und mir der Sturm unbarmherzig Fontänen mit Sand in die Augen bläst. Due Spritz con Aperol im Windschatten UND in der Abendsonne verzeihen das sandige Knirschen zwischen den Zähnen.  

 

Es ist Ostersonntag. Ganz Grado ist auf den Beinen. „La familia“ promeniert auf den üblichen Wegen zwischen Altstadt und Strand. Alte, Junge, Babys, Kinder, Eltern, es ist ein Vergnügen, diese innigen familiären Bündnisse zu sehen, wie vertraut und zärtlich Männer wie Frauen miteinander umgehen. Sie alle eint die Liebe zu gesteppten Jacken. Als kleines Tribut an die gradeser Frühlingsstimmung trage auch ich meine Steppjacke und fühle mich ein klein wenig italienischer und glücklicher.

 

Abends kehren wir beim wohl sanftesten und behutsamsten Gastronomen der Stadt ein. Im „Alla Pace“ gibt es frischen Fisch vom Markt, Gemüse aus eigenem, biologischen Anbau und Limoncello zum Abschied. Wenn der Wirt seine Speisekarte erklärt, hat es etwas Zärtliches und Entschuldigendes an sich. Der Wein fließt und mit ihm die Emotionen. Wie viel kann eine Grippe mir anhaben? Stehe ich nach vielen erfolgreichen Runden wieder am Start? Längst besänftigte Zweifel türmen sich wieder hoch. Es bleibt die Sehnsucht, vor Kraft zu strotzen.

8 Stunden Schlaf. Ein erster Schritt. Kein Kind fiebert, kein Kind weint, keines hat Hunger. Ist auch kein Kind mit. Zeit für mich.

 

Morgenstimmung in Grado. Die Fischerboote sind von ihren morgendlichen Touren längst schon wieder da. Männer flicken ihre Netze. Elegant zurecht gemachte Gradeserinnen eilen zum Einkauf und bewegen sich doch gemächlich. Ältere Männer auf ihren Fahrrädern, Steppjacken, ein „Come stai?“ an jedem Straßeneck. Der Sturm ist vorüber, die Luft ist würzig, auf den fernen Bergen, die heute die Kulisse fast unwirklich machen, liegt Schnee. Die Segelboote im Yachthafen machen dieses Bild fast surreal perfekt. Wir fügen uns nahtlos in dieses Bild ein. Wir bauen tragfähige Luftschlösser, enthüllen Leidenschaften, bestaunen fliegende Kitesurfer,  lassen uns von der Flut gefangen nehmen, halten uns und laufen uns die nassen Füße wund. Als wir unseren ersten Cappuccino am Meer trinken, glitzert das Meer fast genauso wie damals, wenn da nicht eine Möwe die Pizzaschnitte vom Tisch des Nachbarn stehlen würde. Heiterkeit.

 

In unserer Stammkneipe „Bar al Porto“  gibt es den besten Cappuccino der Welt, die erstaunlichste Bedienung Grados und 300 g Prosciutto Cotto im Panino. Wir sind nur einen Atemzug vom Glück entfernt. Für diesen einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass alles möglich ist. Wie wäre es also, wenn wir versuchen würden, die Zeit anzuhalten?

 

Einen Tisch bei Toni zu ergattern grenzt an einem Feiertag fast schon an ein Wunder. Er hat einst mein Parfum bewundert, ich liebe seine Küche. Ich fühle mich erholt und lebendig. Der vino rosso vom Haus stimmt mich sanft und liebevoll, alle Zweifel weichen davor zurück. „E molto buono!“ Ja, dieser Wein weichzeichnet alles, was zuvor in Härte gehüllt war. Lösungen finden wir keine, dafür Lachen am Heimweg und die Erkenntnis, dass eine von Toni gegrillte Goldbrasse tatsächlich glücklich machen kann.

 

Oh Grado mio!

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