Deep Blue Healing

Begegnungen mit Delfinen auf den Azoren

Wir brausen mit unserem 300 PS starken Motorboot über das tiefblaue Atlantikwasser. Die See ist unruhig, die Insel vor uns verschwindet hinter vorbeiziehenden, unheimlich anmutenden Nebelschwaden. Der höchste Berg Portugals, der „Pico“, der unerschütterlich über die Inselgruppe der Azoren wacht, verhüllt seine Spitze geheimnisvoll.

In der Ferne sehen wir einen großen Schwarm Sturmtaucher. Das Boot zieht eine scharfe Kurve, wendet ab und schießt pfeilgenau auf den Vogelschwarm zu. Dann, fast im letzten Moment, geht unser Bootsmann Fernando vom Gas. Sein Blick schweift über das Meer, dann zu uns. Wir sitzen zu zweit in Neoprenanzügen am Bootsrand, Flossen an den Füßen, Taucherbrille und Schnorchel griffbereit. Sein eindringlicher Blick wird von einem lauten „Ready?“ begleitet. Mein Herz schlägt schnell, ich nicke. Wir rasen noch immer über die Wellen, und dann sehen wir sie. Die ersten Delfine in der Ferne. Jubel an Bord. Fernando drosselt das Gas. Langsam, fast leise steuert er das Boot genau dorthin, wo es hin sollte. Er weiß, in welche Richtung sich die Delfinschwärme bewegen. Plötzlich sind um unser Boot mehrere hundert Delfine. Fernando zeigt uns die Richtung, in die wir schwimmen sollen. Das Boot gleitet nur noch sanft über die Wellen. Dann schreit Antonio: „Go, go!“

 

 

Zu zweit lassen wir uns ins 400 Meter tiefe Wasser. Deep Blue Sea.  Zunächst ist es tatsächlich nur sehr blau und sehr tief. Doch dann sehen wir sie. Unter uns, neben uns, vor uns, hinter uns. Der Tanz mit den Engeln der Meere beginnt. Sie zu verfolgen wäre sinnlos. „Wenn sie wollen, dann kommen sie. Wenn nicht, sind sie hungrig, aufgeregt oder sie haben etwas Besseres zu tun,“ erklärt uns Fernando während der Fahrt.

 

Zeit und Raum verlieren unter Wasser ihre Bedeutung. Kaum haben wir unsere Köpfe unter Wasser betreten wir eine andere Welt. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon dem bunten Treiben im Wasser zusehe. Um mich zu orientieren, tauche ich kurz auf und sehe, dass das Boot schon weit von mir abgetrieben ist. In den Wellentälern scheint es, als wäre ich völlig allein in diesem großen Ozean. Und trotzdem fühle ich mich kein bisschen einsam. Ein Hauch Unendlichkeit erfasst mich. Ich tauche wieder unter und sehe, dass einige Delfine in meiner Nähe sind.

 

Magische Momente im Leben kann man nicht erzwingen. Sie kommen einfach. Und so ein magischer Augenblick erwartet mich hier in dieser tiefblauen Ewigkeit. Ein Delfin schwimmt auf mich zu und blickt mir für einen kurzen Moment tief in mein Herz. Ich höre die außerirdisch anmutenden Gesänge seines Gefolges. Der Delfin fordert mich zum Tanz auf. Ein kurzer Augenblick, der sich für immer in mein Herz brennen wird. Der Delfin dreht sich vor mir, ich drehe mich mit. Er wendet sich ab, aber nur um wieder auf mich zu zuschwimmen. Mir ist, als würde er mir sagen: „Alles ist gut“. Und genau in diesem Augenblick weiß ich, dass er Recht hat. Es IST alles gut.

 

Ich weiß, es ist Zeit aufzutauchen. Wie in Trance werde ich  aufs Boot gezogen. Tränen kullern über meine Wangen. Ich jubiliere, weine, schreie unzusammenhängende Dinge, die vielleicht nur eines sagen wollen: Es war wunderschön!

Das Boot ist mittlerweile zum nächsten Hotspot unterwegs. Wir reiten regelrecht über die Wellen. „Sie kommen zu jenen, die bereit sind“, sagt der von Sonne und Wind braun gegerbte Bootsmann Fernando, neben dem ich noch immer nass, glücklich und frierend stehe. Ich weiß, heute werde ich die Delfine nur noch vom Boot aus betrachten. Mehr Glück geht an einem Tag nicht. Die anderen am Boot warten auf ihre Augenblicke.

 

Am Nachmittag falle ich in einen traumlosen, tiefen Schlaf. So gut habe ich noch nie in meinem Leben geschlafen.  Dankbarkeit und eine neue Gewissheit über das Schöne im Leben begleiten mich den restlichen Tag. Stunden, die ich mit bloßem aufs Meer Schauen, über Lavafelder Spazieren und Kaffee um einen Euro verbringe. Ein Windstoß bläst meinen Sonnenhut aufs Meer hinaus.

 

Jeden Tag fahren wir Delfin-Junkies mit Fernando aufs Meer hinaus. Er weiß mit Hilfe des „Vigilio“, dem Landbeobachter, wo sich die Delfinschwärme aufhalten. Wir finden sie jeden Tag: den gewöhnlichen Delfin, den gefleckten Delfin, den „Bottlenose“, der tatsächlich wie Flipper aussieht und die „Reezas“. Jede Delfinart ist wunderschön, die gefleckten Delfine sind die neugierigsten unter allen. Sie alle leben frei und unabhängig in ihrem Ozean. Sie werden nicht dressiert, nicht eingesperrt oder gefüttert. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Wildtiere. Sie kommen zu uns, wenn sie wollen. Wenn sie Hunger haben, sehen wir sie über das Meer jagen. Sie würdigen uns keines Blickes, in rasanter Weise bewegen sie sich vorwärts zu ihren Jagdgründen. Wir sehen Mütter und ihre Babys, wir sehen große Schwärme und kleinere Gruppen. Sie alle wissen genau, was sie zu tun haben. Wir Menschen dürfen nur jeweils zu zweit in ihre Welt eintauchen.

 

Jede Ausfahrt ist ein Besuch in einer anderen Welt. Und jede Ausfahrt ist auch immer ein persönlicher Weg. Da draußen auf dem wilden, ungestümen Meer gibt es nur die Kraft der Natur und dich. Es nützen kein Beruf, kein Status, keine Geldbörse und keine Erfolge. Freundlich kann man die Naturgewalten rund um die Azoren nicht gerade bezeichnen. Eher rau, urtümlich, vielleicht sogar gewaltig. Und so begegnen wir da draußen auf unserem kleinen Boot auch unseren Ängsten: vor der Tiefe, vor dem Dunkel, vor der Hingabe, vor dem Ungewissen, vor dem Misserfolg.

 

Im Laufe der Tage erobern wir alle ein Stück von uns selbst zurück. Es ist, als würde uns das Meer reinwaschen, der Wind durchpusten. Wir übergeben dem „Deep Blue“ unsere tiefsten Gefühle. Die Angst, nicht genug zu sein. Die Angst, das Glück nicht zu verdienen,  die Angst, nicht geliebt zu werden. Die Delfine kommen bereitwillig und unterstützen uns auf unseren Wegen. Alles hier geht schnell und fast schmerzlos. Der Weg über das Meer scheint eindeutig und notwendig zu sein.

 

Eine von uns hatte eine fast unüberwindliche Angst vor einer Begegnung im Wasser mit den Delfinen mitgebracht. Und doch wollte sie jeden Tag hinaus aufs Meer. Sie wusste wohl, dass sie Hilfe bekommen würde. Eines Tages, musste sie so dringend auf die Toilette, dass sie sich unwillig und doch sanft ins Wasser gleiten lies. Niemand hatte Delfine gesehen. Als sie schließlich im Wasser schwamm und ihre Notdurft verrichtete, kam ein einziger Delfin auf sie zu. Es war Heilung im Augenblick. Wir alle am Boot hatten Tränen in den Augen.

 

In dieser Woche werden wir vor allem Zeugen von der großen Weisheit dieser Tiere. Sie wissen genau, wann Zeit für Begegnungen ist. Und sie wissen auch, wann es  Zeit ist, zu gehen. Würden wir ihre Zeichen übersehen, wären sie bald nicht mehr unsere Freunde. Wir lernen, dass Delfine rein gar nichts mit Flipper zu tun haben. Sie sind Wildtiere, Raubtiere, die ihr Leben nach ihren Gesetzen gestalten. Ihre Magie machen ihre immense Lebensfreude, Neugierde und ihre fast schon unheimliche Empathie aus.

 

Täglich begleiten sie unser Boot, sie tanzen und spielen vor und mit uns. Wir lernen so, ein wenig von ihrer Sprache zu verstehen. Wir lernen, welcher Flossenschlag Freude und Genuss bedeutet, wir sehen aber auch jenen Flossenschlag, der heißt, es reicht, es ist Gefahr.

 

Hunger, Kälte, Durst werden auf unseren Fahrten vergessen. Quallen auf unserer Haut werden mit Essig gelöscht. Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, wir wissen, wer zuerst ins Wasser will und wer zuletzt. Jeder bekommt genau das,  was er braucht. Es ist, als würden wir auf diesen Ausfahren für alle Wunden, die wir mit uns tragen, ein wunderbares Geschenk erhalten.

 

Nach den 3-stündigen Ausfahrten empfängt uns die Insel Pico freundlich. Ihre Bewohner, die Kaffees und die Restaurants sind herb und doch einladend.  Das tiefe, klare Wasser liefert den Bewohnern und seinen Gästen köstliche Fische. Käse, Honig und Wein nähren nicht nur unsere Körper, sondern sind auch Balsam für unsere Seelen. Diese Inseln, die aus Feuer und Wasser entstanden sind, sind wie eine große Batterie, an die man sich anschließen darf, um sich rundum zu erneuern.

 

Legen wir uns nachmittags auf die erkalteten, und doch wärmenden schwarzen Lavasteine, ist es, als würde eine Jahrtausende alte Kraft unsere Körper wieder aufladen. Die Wärme des Gesteins dringt tief in den Körper ein und erneuert alles, was alt ist.

 

Nur an den besonders klaren Tagen zeigt sich der alte Berg Pico. Er wacht wie ein ehrwürdiger Meister über sein Areal, seine Lebewesen und Bewohner. Er ist der Wächter über eine uralte Kraft, an der sich nicht nur wir Menschen nähren dürfen, sondern auch die Delfine, Wale und alle anderen Lebewesen, die auf den Azoren ihre Heimat gefunden haben.

 

Nach zwei Gläsern köstlichen Pico-Weißweins, Inselkäse und Honig und einem gegrillten Tiefseefisch in meinem Lieblingsrestaurant Ancora D‘ouro, schlendere ich durch den kleinen Ort Madalena. In einem Kaffee am Hafen sehe ich Fernando mit einer Gruppe junger Leute. Er ruft: „Hey Miriam, where is your hat?“ Nun, lieber Fernando, den hat wohl, wie so manch anderes, der Wind aufs Meer hinaus getragen.

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